Juni 1

Lob dem Narzissmus?

Kindheitsträume

Schon als Kind träumte ich davon, einmal berühmt zu sein. Ob als Sänger, Schauspieler, Arzt, Fußballspieler oder Staatsmann – meine Phantasie kannte keine Grenzen. Und so schmückte mein Tagebuch weniger meine aktuellen Erlebnisse als vielmehr diverse selbstformulierte Zeitungsartikel über meine Heldentaten als Multitalent.

War ich bereits in jungen Jahren schon derart von mir und meiner glorreichen Zukunft überzeugt? Nein, ganz im Gegenteil! Die Traumwelt half mir eher meine Schüchternheit für einen Moment zu vergessen und mich voller Motivation auf mein späteres Leben als Erwachsener zu freuen.

Und wie ich mich freute. Ich konnte es damals kaum erwarten, endlich meine eigenen Entscheidungen treffen zu dürfen: eigene Wege gehen, erfolgreich sein, eine attraktive Frau finden, dazu noch Kinder, Haus, Auto… Eben das komplette männliche Vorstellungsprogramm aus Ruhm, Reichtum und Zufriedenheit.

Die Kraft des Egos

Und nun, über vierzig Jahre später? Die große Berühmtheit lässt immer noch auf sich warten. Aber ich schaffte es immerhin schon als Bandleader auf die große Bühne des Rock`n Roll, wurde bereits in den ersten Berufsjahren Führungskraft und gründete einige Jahre später sogar ein eigenes Unternehmen.

Auch wenn es damals ganz offiziell um Weltfrieden, Mitarbeiterentfaltung und Kundenzufriedenheit ging – in Wirklichkeit machte ich das alles nur für mich und mein Ego. Für mehr Anerkennung, für meinen Status und die Erhöhung meiner Attraktivität als Mann. Eine innere Kraft, die allerdings nicht nur mich anzutreiben scheint.

So definierte der amerikanische Psychologe Steven Reiss bei seinen Forschungen 16 Lebensmotive, die uns jeweils stärker oder schwächer intrinsisch in Bewegung bringen. Sein daraufhin entwickelter Persönlichkeitstest ist ein erhellender und für manchen vielleicht auch erschreckender Blick in den eigenen Spiegel. Denn plötzlich stehen oft zitierte Werte wie Idealismus, Neugier oder Familie in starker Konkurrenz zu Status, Rache oder Macht. Letztere Begriffe sucht man übrigens häufig vergebens auf den Vision Boards des neuen Leadership-Mainstreams.

Eine hilfreiche Dosis Narzissmus

Sind wir also eventuell viel egozentrischer als wir es uns selbst eingestehen wollen? Sollten wir demzufolge viel mehr voller Scham auf unser Wertesystem schauen und uns gründlich hinterfragen? Und wie groß ist die Gefahr, als Narzisst zwar erfolgreich zu sein, dafür aber skrupellos das Leben anderer zu zerstören, um danach völlig vereinsamt zu sterben?

Der Franziskanerpater Richard Rohr schenkt uns in seinem Buch „Reifes Leben“ Entlastung. Er spricht dort überraschend von einem guten und notwendigen Narzissmus. Laut ihm bräuchten wir alle ein gewisses Maß an Erfolg, Bestätigung und positivem Feedback. Nur dann könnten wir die nötige Sicherheit erlangen, um vor allem in der zweiten Hälfte unseres Lebens den wahren Sinn unseres Tuns zu ergründen und letztendlich auch zu finden. Andernfalls rennen wir bis zum Lebensende der Bestätigung von außen nach und beklagen zusätzlich permanent den Mangel an Wertschätzung.

Und wenn wir ehrlich sind, kennen wir diese Ausmaße des ewigen Strebens nach Anerkennung doch nur allzu gut. Karrierestufen, Dienstwagen, Geld und Ansehen sind trotz aller New-Work-Ambitionen immer noch die eigentlichen Motoren unserer Arbeits- und Geschäftswelt. Es liegt mir völlig fern, dies zu verteufeln. Ich halte sie sogar ebenso wie Richard Rohr für notwendig, wenn sie sich als wichtige Motivationsfaktoren auf dem Weg zu einem sicheren Selbstbild erweisen. Spannend ist vielmehr die Frage, wie viel wir davon brauchen, um irgendwann eine neue Entwicklungsstufe unserer Persönlichkeit zu erreichen und frei von unserem Umfeld, ganz bei uns selbst anzukommen.

Losgehen & Loslassen

Was also nun tun im Spannungsfeld aus Erfolgsdrang und Sinngebung? Als Unternehmer und Führungskraft heißt das für mich vor allem loszugehen, vorauszudenken, voranzugehen – eben etwas zu unternehmen. Die eigenen Motive dafür zu erkennen und annehmen zu können. Denn Macht und Status bedeutet eben nicht nur ein berauschendes Gefühl der Einflussnahme. Sie bedeuten vor allem auch Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, für die Wirkung auf Kunden und Mitarbeiter.

Ebenso möchte ich es aber auch weiterhin genießen, als Entscheidet etwas bewegen zu können. Die gute Seite der Macht sozusagen zu leben und zu schätzen. Erfolge zu feiern, allein oder mit allen Beteiligten. Und die damit verbundene Wertschätzung und Anerkennung bewusst für neue Ideen und Projekte zu nutzen.

Denn ganz im Verborgenen bin ich meinem (hoffentlich) kleinen Narzissmus schon ziemlich dankbar. Dankbar, dass er mich zu diesem Leben geführt hat. Dankbar für die kleinen Eitelkeiten und dem daraus resultierenden Mut, einfach loszugehen. Dankbar auch für die vielen kleinen und großen Momente des Scheiterns, des Aufstehens und des Ankommens. Und so lange mir dieser kleiner Narzissmus nicht völlig den Blick für die Welt verstellt, bin ich auch voller freudiger Erwartung auf das, was noch Spannendes auf mich zukommt.

Ganz nach Mary Jane Oliver: „Sag mir, was willst du tun mit deinem einzigen, wilden und kostbaren Leben?“


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