Viel zu kurzes Leben

Ziele, Ziele, Ziele…

Was habe ich letztens gelesen: Wer nicht mehr wachsen will, ist vielleicht schon längst tot! Zuerst habe ich über diese scheinbar banale Verzerrung herzlich gelacht. Doch dann ließ mich dieser Satz einfach nicht mehr los. Natürlich leben wir in einer ständigen Wachstumsgesellschaft: Umsatzsteigerung, Gewinnmaximierung bis hin zur professionell begleiteten Persönlichkeitsentwicklung. Überall setzen wir uns immer wieder neue Ziele und treiben uns und andere an, das nächste Level möglichst schnell zu erreichen. Denn das Leben erscheint uns viel zu kurz und wir haben nur wenig Zeit.

Wer sich keine Ziele setzt, wird sich nicht weiterentwickeln. Wer sich nicht weiterentwickelt wird nicht erfolgreich sein. Und wer nicht erfolgreich ist, hat sein Leben verschenkt… So lautet häufig das Mantra unseres modernen Zeitgeists. Und dabei ist es völlig egal, ob wir nur dem beruflichen Erfolg wie Geld, Einfluss oder Anerkennung hinterherlaufen. Selbst privat sind wir mit den Kriterien einer gesunden Lebensweise, der perfekten Partnerschaft oder gar der Kultivierung unserer Freizeitgestaltung nicht weniger anspruchsvoll. 

Während frühere Generationen sich jeweils nur zum Jahreswechsel ein paar gute Vorsätze zu Herzen nahmen, kommen wir schon in Erfolgsdruck, wenn wir es versäumen, regelmäßig unsere Tagesziele in einer meditativen Morgenroutine zu visualisieren. Wie bitte sollen wir das alles nur schaffen?

Zeitlose Work-Life-Balance

Und genau da wartet eine gut getarnte Falle auf uns! Denn damit wir das alles schaffen können, müssen wir fit sein. Wir müssen uns gesund ernähren, viel bewegen, Energie und Kraft im Yoga oder in der Meditation sammeln. Wir müssen auf unseren Körper und vor allem auf unseren Kreislauf achten. Was wir also brauchen, ist der viel zitierte körperliche Ausgleich zu unserer oftmals anspruchsvollen Kopfarbeit.

Bitte nicht falsch verstehen! Das ist ja theoretisch alles vollkommen richtig und auch absolut wichtig. Der Haken ist nur, wir brauchen für all das auch wieder Zeit. Denn wir müssen neben Arbeits- und Familienzeit nun auch noch unsere sportliche Freizeit in einen 24-Stunden-Tag integrieren. Und so kann die völlig paradoxe Situation entstehen, dass wir ziemlich gestresst zu genau den Aktivitäten rennen, die uns eigentlich Entspannung bringen sollten. 

Wo bleibt da noch der Raum zum Luft holen? Ist es wirklich die richtige Entscheidung, wenn wir viel Arbeit mit ausschließlich viel Bewegung kompensieren wollen? Und warum sitze ich, in nicht wenigen Fällen, Führungskräften und Unternehmern im Coaching gegenüber, die zwar topfit schon so manchen Marathon bestritten haben, aber trotzdem aus heiterem Himmel plötzlich ausgeknockt werden?

Wenn plötzlich das Licht ausgeht

Unser Gefühl, in vielen Bereichen gerade erfolgreich unterwegs zu sein, scheint uns also nicht davor zu schützen, dass unser Körper seine eigenen Entscheidungen trifft. Dabei wissen wir es doch eigentlich nur allzu gut: wer nicht sehen will, muss fühlen! Und so werden wir mit ganzer Macht darauf gestoßen, was wir bei all der Beschäftigung mit anderen Dingen so lange für uns unsichtbar gemacht haben.

Mein Moment der bitteren Erhellung war an einem sonnigen Freitag im September 2014: Seit einigen Jahren bin ich nun schon beruflich erfolgreich. Der Firma geht es gut und wir haben ein Büro in luftiger Höhe mitten im Stadtzentrum bezogen. Es gibt sehr viel zu tun, aber die Arbeit macht Spaß und ich fühle mich gut und kraftvoll. Nach einem sehr inspirierenden Geschäftsessen betrete ich gut gelaunt ein Geschäft. Eine freundliche Verkäuferin kommt auf mich zu, als es plötzlich, völlig unerwartet, dunkel wird… 

Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Boden und schaue in besorgte Gesichter. Ich bin komplett durchgeschwitzt, mir ist übel, mein Kopf brummt und ich denke nur: Stress, Stress, Stress. Als der Krankenwagen kommt, werde ich vom Notarzt gefragt, ob ich aufstehen kann. Ich kann und will gerade gar nichts mehr. Ich bin völlig erschöpft, auf einen Schlag aus meinem motivierten Leben gerissen.

Dankbare Lebenszeit

Schon nach kurzer Zeit verlasse ich ohne ernsthaften Befund das Krankenhaus. Noch einmal Glück gehabt! Und trotzdem kann ich mich ganze 4 Monate nur sehr langsam bewegen. An Arbeit ist in diesem Zustand nicht zu denken. Mein ganzer Körper schreit nach Ruhe und Entschleunigung. 

Dafür habe ich nun viel Zeit. Zeit zum Atmen und Nachdenken. Zeit für Demut und Dankbarkeit. Zeit für so wertvolle Momente in der Natur, mit meiner wundervollen Familie und meinen so wertvollen Freunden. Und vor allem Zeit, um über mich und meine Ansprüche an mein Leben nachzudenken. 

Unser Leben ist begrenzt – das steht fest. Und natürlich sollten wir uns Ziele setzen und diese Zeit auf Erden so gut wie möglich nutzen. Aber wir sollten bei aller Motivation, Struktur und Optimierung nicht das Ausruhen vergessen. Denn in der Ruhe liegt die wahre Kraft unseres Schaffens. Das gilt für unsere Gesundheit als Mensch und erst recht für unsere Innovations- und Führungskraft als Entscheider. Sonst wird aus unserer Wahrnehmung aus wenig Zeit und deren Hast ein wirklich viel zu kurzes Leben.

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